Erziehung ist eine Kunst
Der Sinn „Sinniger Geschichten“
Was sind „Sinnige Geschichten“?
Kinder lieben es, wenn ihnen Geschichten vorgelesen werden. Aber heutzutage ist das Vorlesen in den Hintergrund gerückt, oftmals ersetzen die Medien den anwesenden Vorleser. Doch gibt es die Gelegenheit (z.B. auf einem Volksfest), in ein Märchenzelt zu gehen. Dann ist dieses meistens vollbesetzt mit kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern. Generationen von Menschen hörten Märchen, Fabeln oder Legenden.
Was berührt die Kinderseele an diesen Geschichten und wie wird sie dadurch geprägt?
Im Gegensatz zu uns Erwachsenen unterscheidet ein Kind in den ersten sieben Jahren eine lebendige nicht von einer leblosen Welt. Das Kind dürstet nach einer Naturschilderung, die die Natur verlebendigt. Für das Kind sind ein Stern, eine Sonne, ein Stein, eine Pflanze ebenso fühlend wie ein Tier und ein Mensch. Die Sonne geht unter, weil sie müde ist. Alles steht miteinander in Verbindung und kann miteinander ins Gespräch kommen. Das Kind trennt nicht zwischen seiner Umwelt und sich selbst. Es ist eins mit allem.
Kommt das Kind in die Schule und hat es mit dem Zahnwechsel begonnen, ändern sich die Verhältnisse. Das Kind des zweiten Jahrsiebtes lebt in Bildern und hat eine große Sehnsucht nach ihnen. Es will jetzt lernen und das Lernen nährt seine Seele nur dann, wenn der Erwachsene es schafft, dem Kind die Welt in Bildern nahe zu bringen. Seien es die Buchstaben, die Zahlen oder auch ethische Werte, die es lernen und sich aneignen soll. Werden zu den Buchstaben Geschichten erzählt, dann berühren diese die Seele des Kindes. Es behält den Buchstaben, weil die Geschichte sein Gemüt erreicht hat.
Bis zum neunten Lebensjahr will das Kind noch keine Naturgesetze erklärt und Werte nicht als inhaltliche Botschaft vermittelt bekommen. Wird der Wert des Teilens in einer Legende erzählt, so wie in der des Heiligen Martin, dann leuchten die Augen der Kinder. Wird der Angeber oder Besserwisser, wie in der Fabel vom Hasen und Igel durch eine List besiegt, dann erleben und spüren sie, dass das Angeben kein anzustrebender Wert ist.
- Hier sind die Akteure für die kleinen Zuhörer Vorbilder.
- Nicht der Verstand oder der Intellekt werden angesprochen, sondern das Herz.
- Da nun setzt die „Sinnige Geschichte“ an.
Wie oft habe ich Eltern klagen hören, dass das Kind sich den einen oder anderen Buchstaben nicht merken kann. Dass Mutter oder Vater ihm auch schon mehrmals erklärt haben, dass man nicht stehlen darf. Auch dass man als Eltern nicht immer gleichermaßen gerecht sein kann. Die Kinder beschweren sich, dass es so gemein ist, wenn das Geschwisterchen mehr bekommen hat. Und wie oft werden Kinder darauf hingewiesen, dass Zornanfälle nicht helfen.
Die heutigen Erwachsenen appellieren vorwiegend an den Verstand und die Vernunft des Kindes. Das erreicht ein Kind aber nicht. Es ist für das Kind so, als gäbe man uns, wenn wir Hunger haben, nur ein hartes Stück Brot. Wir lassen das Kind durch diese verstandesmäßigen Erklärungen seelisch vertrocknen. Das Kind hört unser Reden, aber es wird nicht berührt. Es bleibt davon nichts oder wenig in seiner Erinnerung hängen. Und wenn doch, dann ist es wie ein auswendig gelernter Satz, der keine Anbindung an das Fühlen hat. Die Botschaft wird dann nur nachgeplappert.
Die „Sinnigen Geschichten“ lassen die Kinder seelisch mitschwingen mit den Nöten, den Sorgen, den Kümmernissen, den Freuden und den Lösungen, die die betroffenen Kinder in den Geschichten entwickeln. „Ja, dass will ich auch so machen, ja, so ist das gut!“
Die „Sinnige Geschichte“ lässt in dem Kind einen eigenen Impuls des Handelns entstehen. Das ist Erziehung zur Freiheit. Kein Erklären, Belehren, Schimpfen, kein Beschämen oder Kritisieren fordert das Kind auf, sich zu ändern.
Die „Sinnige Geschichte“ wird vorgelesen oder erzählt, ohne dass man sie weiter erklärt und damit den Intellekt anspricht. Sie soll als ungestörtes, kraftvolles Bild wirken. Sie kann bei Gelegenheit auch immer wieder aufgegriffen werden.
„Sinnige Geschichten“ wirken nicht sofort wie eine Medizin. Das Kind wird oft nicht unmittelbar sein Verhalten ändern. Doch das Bild dieser Geschichten verankert sich im Herzen.
„Die Martinslegende habe ich sehr geliebt. Das Teilen mit den Geschwistern fiel mir trotzdem schwer und gelang nicht immer. Das Bild des heiligen Martin, der dem Bettler den halben Mantel abgibt, aber bleibt ein Leben lang bestehen und wirkt im Stillen als Orientierung weiter“.